Es war ein sonniger Freitag nach einer verdammt langen und verdammt verregneten Woche. Ich hatte mich schon die ganze Zeit auf den Frisörtermin gefreut. Am Ende der Woche, wenigstens eine Stunde, in der man nichts tut. In der man das Wetter genießen, das Wochenende einläuten kann. Nur für einen kurzen Moment – eine winzige, unscheinbare, kaum existierende Oase voll sattem Grün in der sengenden Hitze der Wüste, eine felsige, unverwüstliche Insel inmitten des stahlblauen Meeres, der Wegweiser auf einem unendlich langen und staubigen Weg, der Tag, Woche, Monat, Leben heißt.
Ich kam in den Frisörladen und setzte mich auf die alte, durchgesessene Couch am Rande eines Frisörstuhls.
„Du bist gleich dran, nur noch einen Moment“, sagte der Frisör ohne mich anzuschauen, doch wie ich sehen konnte mit seinem charmanten Lächeln, das mich sofort bei ihm ankommen ließ. Ich lehnte mich zurück, sank tief in die Couch, die trotz ihres Alters und der unzähligen Menge an Menschen, die darauf schon gesessen hatten, diesen besonderen Geruch bewahrt hatte – dieser Geruch, der so vieles symbolisiert, was man gar nicht erklären, in Worte fassen kann: Vergangenheit, Unbeschwertheit, Einfachheit, vielleicht sogar Glück – und schloss kurz die Augen. Keine Anrufe, keine Besprechungen, nichts. Nur das leise Schnappen der Schere, diese immergleiche, diese ewiggleiche, diese einzig mögliche Bewegung. Eine Couch, eine Schere. Ich ließ die Augen geschlossen und fragte mich, wie so oft an diesen Freitagen, wie es wäre, sie länger geschlossen zu halten, nur um sie, sehr viel später, an einem anderen Ort wieder zu öffnen. Weit weg, lange vergangen, kaum etwas übrig. Ob es wirklich anders wäre; all das.
„Wir wären dann so weit“, hörte ich eine tiefe Stimme plötzlich sagen, die mich wegriss von diesem Ort, der, wie in einem sanften Traum, den Beginn des Einschlafens, der Ruhe, der Regeneration, des Vergessens einläutet und alles so einfach macht. Ich öffnete die Augen und fragte mich, wie ich diesen Ort nennen wollte, ob er mehr war als dieses seltsam strahlende, so warm schimmernde Orange, das hinter meinen Augen wie ein Film vorbeirauschte, ob ich ihn wiederfinden würde, festhalten könnte, um daran zu zehren, dann, wenn es nötig wäre, in jenen Momenten, in welchen es einfach nicht aufhört, früh morgens im Stau, bei der Arbeit, auf der Fahrt nach Hause oder am Abend, dann, wenn nach einem langen Tag vielleicht ein wenig Ruhe einkehrt und die Meldungen neuer Toter, Hungernder, Geflohener, Verzweifelter über die glatten Bildschirme der modernen Welt rauschen. Wenn die Wände des Labyrinths so plötzlich so unendlich hoch vor einem aufragen, unmöglich, auch nur einen weiteren Schritt zu tun.
„Und, wie war Deine Woche?“, fragte er mich nach einer Weile, in der er meine Haare mit Wasser bespritzt und zurückgekämmt hatte und ich plötzlich, für einen Moment, nur mein Gesicht, beinahe ohne Haare, blank, nackt, seltsam alt, ein anderer Mensch, im Spiegel sehen konnte.
„Oh, das Übliche“, sagte ich, und er fing an zu schneiden. Langsam nahm er Strähne für Strähne und schnitt – immer nur ein wenig, er nahm sich Zeit – die zwischen den Fingern überstehenden Haare ab. Diese immergleiche, diese ewiggleiche, diese einzig mögliche Bewegung. Ich schloss, beinahe ohne es zu merken, wieder die Augen. Um fort zu kommen; zu dem Ort im warm schimmernden Orange.
„Arbeitest Du noch in diesem Büro?“, fragte er, und für einen Moment sagte ich nichts. Ein Büro. Das war alles und brachte es auf den Punkt. So einfach, so unverändert, wie das letzte Mal, als ich dort gewesen war, und davor, und davor.
„Ja“, sagte ich und öffnete die Augen, sah mich selbst wieder im Spiegel, einzelne Haare auf meinem Gesicht verstreut, abgetrennt, tot. Ich überlegte, was ich sonst noch sagen könnte; was ich wirklich tat, wirklich dachte, wirklich wünschte, für mich, für jene, die es noch viel schwerer hatten.
„Finde ich toll. Da machst Du doch bestimmt so einiges mit, oder?“, fragte er dann fröhlich, beinahe beschwingt, mit einer seltsamen Höhe im Ton, die mich dazu brachte zu glauben, dass er keinerlei Ahnung hatte, was in diesem Büro geschah. Doch ja, dachte ich, ich gehe dort hin Tag ein Tag aus, schnell nen Kaffee, telefonieren, Memos schreiben, Termine absprechen, Konzepte raushauen, viel reden, noch mehr telefonieren, hierhin, dorthin, hin und her, her und hin, hier, dort, überall. Würde jedem erklären können, was im Einzelnen sonst noch wichtig wäre, worauf man zu achten habe. Aber verstehen würde ich es nicht.
„Naja, schon. Man…ja, man lernt vieles“, sagte ich schließlich. Er nickte, und machte seine Arbeit in Ruhe weiter.
„Und bei Dir so?“, fragte ich dann, um nicht unhöflich zu wirken. Ich mochte ihn. „Hast Du demnächst mal frei? Du arbeitest ja viel.“
„Naja, über den nächsten Feiertag gönne ich mir ein langes Wochenende. Dann zieh ich mal wieder los“, sagte er. Es hätte alles heißen, meinen können. Aber für den Moment reichte es. Ergab Sinn. Stimmte mich zufrieden. War so genau richtig. Ein einfaches Leben, gelebt von einem glücklichen Menschen, der den Weg durch die engen Maschen des Labyrinths vielleicht doch gefunden hatte.
(Aus: „Losziehen“, abgedruckt in: Kurz – Literatur in kleinen Happen, Verlag 3.0)